Camino del norte – Das ist der Weg und der weg ist nicht immer schön

Unterwegs auf dem Camino del Norte – Teil 2,

Dies ist Teil 2 meiner Reihe “Unterwegs auf dem Camino del Norte”. Teil 1 findet ihr hier.

Es ist der 16. Tag auf dem Jakobsweg. Ich laufe von Comillas nach Llanes, 34 Kilometer. Meine Füße haben endlich den Widerstand aufgegeben und ich bin nun in der zweiten Phase des Jakobswegs angekommen – in der mentalen Phase. In dieser Phase beschäftigt man sich hauptsächlich mit seinem inneren Ballast. Wir kreuzen an diesem Morgen nach weniger als einem Kilometer ins Fürstentum Asturien. Ich bin mit zwei Deutschen unterwegs, die sich auf dem Camino Frances kennengelernt haben, wir laufen schon seit ein paar Tagen zusammen. Schon zwei spanische Provinzen haben wir mittlerweile durchquert, es sind nur noch 490,5 Kilometer nach Santiago. Anstelle der Straße wählen wir nun die längere Strecke direkt auf den Steilklippen, wo der Wind so laut in meinen Ohren rauscht, dass ich meine Gedanken nicht mehr hören kann. Erst recht nicht, was die anderen Pilger zu mir sagen, aber es ist auch nicht wichtig.

Das Wetter ist heute wie eine launische Katze, mal kommt die Sonne raus, kurz drauf nieselt es. Immer wenn ich mein türkisfarbenes Regencape überwerfe, hört es umgehend auf zu regnen. Auch das ist nicht wichtig. Das einzig wichtige ist, zu laufen. Am Strand ziehe ich meine Schuhe aus und genieße das Gefühl des kalten, meerdurchtränkten Sandes unter meinen Fußsohlen und den weiten Blick über die rauen Wassermassen hier an der Küste. Stunden später und Kilometer weiter blicke ich von oben auf mein heutiges Ziel: Llanes. Die Sonne bricht kurz durch die Wolken und wärmt mich trotz des straffen Windes einen klitzekleinen Moment, wie eine Umarmung kurz vor einem Abschied. Dann bricht der Himmel auf und es regnet in Strömen. Es regnet so sehr, dass es sich anfühlt als würde man komplett angekleidet unter einer Regendusche mit ordentlichem Wasserdruck stehen. Ich verfluche meine Entscheidung den längeren „richtigen“ Jakobsweg und nicht die Abkürzung über die Straße genommen zu haben. Jetzt hechte ich in strömendem Regen den Berg hoch und runter und entferne mich zu meiner grenzenlosen Frustration nochmal etwas von Llanes, während ich von oben wehmütig zusehe, wie die Straße den direkten Weg zur Stadt
beschreibt. Schritt, Schritt, Schritt, Schritt, Schritt. Ich sehe nichts außer meinen Füßen auf dem Boden, die den Pfützen von selbst auszuweichen scheinen, bis es keinen Sinn mehr hat, weil meine Füße sowieso klitschnass sind. Laufen ist jetzt ein Automatismus. Und so dauert es nicht lang, bis ich als türkisfarbener Quasimodo durch die Kleinstadt eile, die Kapuze so zugezogen, dass ich nichts sehen kann außer den gelben Pfeilen und blauen Muscheln, die mir seit ein paar hundert Kilometern schon den Weg weisen. Und dabei denke ich immer wieder: Warum passt das Wetter eigentlich immer so gut zu meiner Stimmung?? Aber jeder Tag ist anders. Schon am nächsten lasse ich mir Zeit, die wohl liebreizendsten Kühe Spaniens mit ihren Kälbern zu fotografieren und genieße es alleine meinen Weg zu beschreiten.

An diesem Abend bin ich dann in Rosas kleinem Gartenhaus in Piñeres untergebracht. Ich hatte mich auf einen Abend allein eingestellt, aber zwei berentete Spanier, die ich schon vor ein paar Tagen am Wegesrand pausieren sah, erwarten mich bereits und begrüßen mich fröhlich. Sie
laufen Jahr für Jahr einen Jakobsweg nach dem nächsten, weil es für die körperliche und seelische Gesundheit gut sei und weil der Camino ihr Leben ist. Miguel hat als Gastarbeiter vor vielen Jahren in Tübingen im Straßenbau gearbeitet und gesteht mir, dass er seither die deutschen Kirchenglocken vermisst, die einfach schöner seien als die spanischen und ich bewundere die Resilienz dieses alten, weisen Mannes. 

So ziehen die Tage vorbei oder ich an den Tagen, so genau kann man das nicht sagen. Das Wetter ist aprillig, die Sonne scheint, dann regnet es, dann hagelt es, dann scheint die Sonne. Mal hat es morgens null Grad, mal zehn. Manchmal fühlt sich der Wind so eisblau an wie die stürmische See oben von den Klippen aussieht. Ich wusste nicht, dass ich hier alleine sein muss, war ich doch so viel allein zuvor. Aber ich möchte mit meinen Gedanken allein sein, ihnen nachgehen wie den gelben Pfeilen, jeden einzelnen fühlen, ankommen, aushalten. Auch mit den Tieren möchte ich kommunizieren, das kommt zu Hause in der Stadt zu kurz. Ich spreche mit Ihnen, ich füttere und streichele sie. All das passiert, während ich einen Fuß nach dem anderen auf jahrhundertealtes Pflaster setze, wie schon Tausende Füße vor mir. Die Stimmung auf dem Weg ist freundlich und gesellig. Man grüßt hier einfach jeden, dem man begegnet, Pilger und Einheimische. Es fühlt sich an, als wäre man Teil des Dorfes, das Pilgern gehört hier so sehr zum Ort dazu, dass man zu einem Dorfbewohner wird, während man hindurch läuft. Oft winkt jemand ungefragt aus einem Fenster oder hinter einem Zaun in die richtige Richtung, wenn sich mal kein Wegweiser findet. In so einem kleinen, bunten Weiler namens Berbes, stehe ich plötzlich vor einer Wand aus Schildern, auf denen Orte aus der ganzen Welt stehen. Eine Ode an die Herkunft, hier haben sich Pilger verewigt, kein Zweifel. Ergriffen bleibe ich stehen und versuche zu begreifen, wie viele Menschen aus aller Herren Länder hier schon vor mir vorbei gestreift sind. Im echten Leben, in dem anderen, da denkt man nie darüber nach, wer vor einem denselben Weg gegangen ist. Man geht einfach und vergisst schnell, dass man nicht allein ist in dieser Welt. Als mich hinter dem Zaun eine Stimme fragt, ob ich mich nicht auch auf einem Schild verewigen möchte, kann ich nicht Nein sagen. Das Schild ist ein Symbol, mehr als ein „Ich war hier“, es ist eine Erinnerung daran, dass vor mir andere da waren und nach mir andere kommen werden. Der Mann hängt das Schild noch nass auf, die Schrift verläuft in dicken Farbtropfen in Richtung Erdboden. Es ist ein großer Moment, wie es sie nur hier auf dem Jakobsweg gibt. Es ist so ein Moment, in dem man fühlt, wie schön die Welt sein könnte, wenn wir nur alle immer so miteinander umgehen würden, als wären wir eben keine Fremden. Wir umarmen uns zum Abschied, dann zieht es mich weiter.

Dann wieder so ein Tag. Erst Regen, dann folgt ein Regenbogen und schließlich mündet der Tag in strahlend blauem Himmel und Sonnenschein, sodass ich augenblicklich einen Sonnenbrand bekomme und die Luft vor Hitze über dem Asphalt flirrt. Ich treffe die drei Engländerinnern und wir plauschen, wie man das auf dem Jakobsweg eben tut. Und wo sind eigentlich die Kanadier abgeblieben? Wir kennen uns, auch ohne uns zu kennen. Man sieht sich, man grüßt, man wechselt ein paar Worte. „Buen Camino“ ist der Pilgergruß, er wird gleichermaßen für Begrüßung und Abschied verwendet. Es bedeutet „guten Weg“. Ich finde es immer wieder schön, sich gegenseitig einen guten Weg zu wünschen und nehme mir vor, diesen Gruß mit in den Alltag zu nehmen. Und so schenken mir die einfühlsamen Spanier mit einem herzlichen „Buen Camino“ zum Abschied bedeutungsschwanger drei Erdbeeren, ein Taschenmesser und einen Rest Voltaren für meinen Fuß, in dem ich jetzt einen seltsamen Knoten habe. Es sind jetzt nur noch 355 Kilometer. In dem schönen alten Städtchen Villaviciosa gibt es eine geöffnete Kirche und endlich (!) ein Restaurant, wo man mir schon um 17 Uhr ein Abendessen serviert. Ich trinke einen Tinto de Verano in der Sonne und strecke die Beine von mir. Kurz vor dem Ankommen hatten sich meine Füße mal wieder so angefühlt, als ob meine Schuhe mit Blut gefüllt wären. Die letzten paar hundert Meter sind einfach immer die härtesten und die Füße tun einfach immer weh am Ende des Tages, egal wie kurz oder lang die Etappe war. Sitzen, das ist ein großer Luxus, eine unbeschreibliche Wohltat, einer dieser Genüsse, die man zu Hause nicht mehr wahrnimmt. Was will man mehr? Das Leben kann so einfach sein.

Marktplatz von Villaviciosa

Am nächsten Morgen ziehe ich wie immer ohne Frühstück los, nun den dritten Tag in Folge im Regen. Der Himmel hängt so tief, dass ich Angst habe, dass er mir bald auf den Kopf fallen wird. Zwei massive Anstiege liegen vor mir und ich freue mich auf ein Pausenbrot oben auf dem Gipfel des ersten Berges, aber oben angekommen fegt mich dichter Hagel schnell wieder ins Tal. Immerhin treffe ich einen Kolumbianer im nächsten Restaurant, wo wir uns gemeinsam gigantische Sandwiches einverleiben. Es hilft aber alles nix, am Nachmittag mit Füßen voller Blasen vom tagelangen Laufen in nassen Schuhen und mittlerweile zwei der unerklärlichen Knoten in der linken Fußsohle, steige ich schlechtgelaunt für die letzten 5 Kilometer des Tages in den Bus, der in die Innenstadt von Gijón fährt, um mich von meiner Tortur zu erlösen. Ich muss mir nichts mehr beweisen. Dies soll schließlich auch ein Weg der Selbstfürsorge sein. Trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen. Aber was tut mir gut? Wer urteilt über mich außer mir? Gott??
Willkommen in der dritten und letzten Phase des Jakobsweges, der spirituellen Phase. Bald spielen alle körperlichen und mentalen Beschwerden endgültig keine Rolle mehr, es gibt nur noch den Weg und das Universum drum herum. Die Sonne scheint, der Himmel strahlt sein schönstes Himmelblau und es riecht nach Frühling, Meer und frisch gemähtem Gras. Auf dem Weg entlang des Meeres finde ich nun alles, absolut alles, schön. Pflanzen, Tiere, Städte, Menschen. Ich schieße 600 Nahaufnahmen von Blüten in sämtlichen Farben und Formen und fotografiere auch die überwältigend schöne weiße Rauchwolke, die aus einem Industrieschornstein bei Navia aufsteigt.

Die Welt ist sehr schön, wenn man nur hinsieht. An jedem noch so hässlichen Straßenrand stehen mindestens ein paar kleine Gänseblümchen. Jede Schnecke erkenne ich als ein wunderbares Mysterium der Natur. Ich trage wieder ein paar von ihnen über die Straße, wie schon vor ein paar Tagen, als ich mit dem Finnen unterwegs war, und fühle, dass ich ein paar Leben gerettet habe. Die Erde ist so schön! Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt einen Tag so genossen habe. Zwischendurch lege ich mich für die Pause auf eine Wiese oder esse ein Eis in der Sonne. Diese absolute Freiheit, das ist der Jakobsweg für mich. Ich atme dieses Gefühl in vollen Zügen ein und lasse mich treiben. Angekommen in Tapia, bin ich von der wunderschönen Küstenkleinstadt so überwältigt, dass ich trotz schmerzender Fußballen noch einen Rundgang durch die Stadt mache, entlang der Rosamunde Pilcher Szenerie aus mit rosafarbenen Blumenmeeren überzogener Steilküste und einem Sonnenuntergang, bevor ich den Tag bei einem Glas Tinto ausklingen lasse. Morgen schon überquere ich die Brücke nach Galicien und muss Abschied nehmen vom wunderschönen Asturien.

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Ich war vom 14.3. bis 24.4.2022 auf dem Camino del Norte unterwegs, von Irun über Bilbao, Santander, Gjion nach Santiago und von dort weiter nach Murxia und Fisterra – insgesamt 40 Tage! Falls ihr Fragen habt, meldet euch gerne bei mir! An alle die pilgern wollen oder gerade unterwegs sind: Buen Camino!

Dieser Text erschien ursprünglich im Online-Literaturmagazin Experimenta in den Heften November 22 bis Januar 23, die auch über die Webseite käuflich zu erwerben sind! 🙂

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