Unterwegs auf dem Camino del Norte –Teil 1
Kurz nach halb zehn an einem einsamen Bahnsteig in Hendaye, Frankreich, beginnt mein Jakobsweg. Gerade rechtzeitig komme ich noch in der Pilgerherberge an und indem sich die Tür hinter mir schließt, lasse ich die andere Welt hinter mir. Ich bin spät, das Licht ist gedämpft, es riecht nach Fußbodenreiniger und Wanderschuhen und die anderen Pilger schlafen schon in den hölzernen Doppelstockbetten.

Ich will hier zwei Jahre Corona hinter mir lassen, zwei einsame Jahre alleine im Home Office, viele Tage in denen der Weg nur vom Schreibtisch zum Sofa und zurück verlief, mit nichts als stressiger Arbeit und mit wenig echtem Menschenkontakt. 828 offizielle Jakobsweg-Kilometer und traumhafte Küstenlandschaften auf insgesamt circa 20.000 Höhenmetern liegen vor mir, immer an der zerklüfteten spanische Küste entlang, vorbei an San Sebastian, Bilbao, Santander, Gijón und durch Galicien bis nach Santiago. Es ist eine der härtesten Routen nach Santiago, aber auch eine der ältesten. Den Camino Frances, die heutzutage von den meisten gewählte Route, bin ich vor 15 Jahren gelaufen, noch bevor dort der Massentourismus begann. Aber ich habe keine Lust mich zu beeilen, um ein Bett zu bekommen. Ich möchte in der Natur auch mal alleine sein und vielleicht auch mal in einer Herberge. Ich bin gespannt, ob das hier möglich ist, hier und jetzt, mit Corona – nach Corona, wer weiß das schon. Die Jakobswege haben gerade wieder geöffnet, aber Mitte März ist noch Vor-Saison auf dem Camino del Norte, auf dem es viel regnen soll. Ich bin gespannt.
Die erste Etappe ist extrem hart. Der erste Pilgertag ist immer hart, aber weil es noch so früh im Jahr ist, können die 26 Kilometer nach San Sebastian nicht abgekürzt werden und es sind die ersten steilen 200 Höhenmeter zu bewältigen. Die Füße protestieren schon nach wenigen Metern und der Rücken ächzt. Dafür werde ich mit einer spektakulären Aussicht über die zerklüftete baskische Küste belohnt, die hier mal italienisch, mal irisch anmutet. Allerdings bläst uns der starke Wind auch fast vom Berg und, wie sich das gehört, verlaufen wir uns auch gleich ein paar Mal. In Hondarribia öffnet ein Priester seine Kirchenpforten nur für uns und wir beginnen mit dem Stempelsammeln. Denn zum Pilgern auf dem Jakobsweg benötigt man einen Pilgerausweis, mit dem man mit Hilfe von Stempeln nachweist, dass man die Strecke tatsächlich zu Fuß (oder per Rad) zurückgelegt hat und so Zutritt zu den Pilgerherbergen erhält.

Am zweiten Abend trifft in der Herberge eine illustre Runde starker Frauen zusammen: Eine Spanierin, die uns als Erstes mitteilt, dass sie eigentlich nicht gern wandert. Ein junges Pärchen in ihren Zwanzigern, bestehend aus einer Irin und einer Australierin, die ganz spontan hier die ersten 130 Kilometer des Jakobswegs laufen, eine andere Deutsche und ich. Erst lange nachdem die Sonne untergegangen ist, taucht Olena aus dem Dunkel auf und antwortet auf die Frage, woher sie kommt zitternd: „Ukraine“. Wir halten kollektiv die Luft an und eine Welle von mitfühlendem Entsetzen schwappt zwischen den in die Jahre gekommenen Doppelstockbetten dieses Souterrains hindurch wie ein Tsunami. Der Krieg, er kommt bis hierher. Ergriffen lauschen wir ihren Geschichten von Flucht, von Freunden und Brüdern, die in den Krieg gezogen sind und von blutjungen russischen Soldaten, die sich in den nahegelegenen Wäldern ihres Heimatdorfes an der russisch-ukrainischen Grenze verstecken, weil in allen Richtungen nur der Tod auf sie wartet. Olena strahlt diese bewundernswerte Stärke des ukrainischen Volkes aus, das in den letzten 150 Jahren schon viel aushalten musste. Ich denke unweigerlich an meine Großmutter, die vor etwa 80 Jahren mit Anfang Zwanzig auch vor dem Krieg geflohen ist, mit drei kleinen Kindern und einer Ziege auf einem Handwagen. Olena erzählt, dass sie für ihre Entscheidung kritisiert wird, auf den Jakobsweg zu gehen, jetzt, wo ihre Heimat und Europa am Abgrund stehen. Und wir antworten: Gerade jetzt. Gerade deshalb. Wenn uns die letzten zwei Jahre eins gelehrt haben, dann doch, dass das Leben jeden Moment vorbei sein kann. Wer weiß, wann man wieder gehen kann, und wer weiß, ob man dann noch am Leben und fit genug für diesen Weg ist? Wenn nicht jetzt – wann dann?
In der ersten Woche, auf dem Weg nach Bilbao, formiert sich unsere kleine Gruppe täglich neu. Mal gehen wir zusammen, mal allein, abends trifft sich oft ein Teil von uns in einer Herberge – oder, wenn es keine gibt – einer gemeinsam gemieteten Ferienwohnung. Aus einer solchen Wohnung breche ich eines Morgens auf die Etappe von Zumaia nach Deba auf, die mir als die härteste des ganzen Weges in Erinnerung bleiben wird. Schwierig und nur für besonders fitte Pilger geeignet, sei die Alternativroute. Aber dafür ist sie eine der schönsten Strecken des ganzen Weges, schreibt der Pilgerführer. Stundenlange zwölf Kilometer schleppe ich mich mit meinem acht Kilo schweren Rucksack auf Trampelpfaden und über rutschige Kuhweiden schlammige, steile Hänge hinauf und hinunter. Mehrmals rutsche ich aus, bis ich von Kopf bis Fuß verdreckt und nass bin. Tränen der Frustration und des Schmerzes rinnen mir über das Gesicht, wo sie der harte, eisige Wind trocknet. Völlig orientierungslos stolpere ich ohne die gewohnten Pfeil- und Muschelwegweiser durch den grausam-einsamen dunklen Wald. Genau das ist auch die erste Phase des Jakobswegs, die körperliche, in der Pilger überwiegend mit der physischen Anstrengung beschäftigt sind. Aber wo die Bäume den Blick auf die kargen, zerklüfteten Felswände freigeben, entlohnt die atemberaubende Aussicht für die harten Strapazen. Denn auf dem Jakobsweg ist es wie im Leben: Alles für das es sich lohnt zu leben, muss man sich Zentimeter für Zentimeter erkämpfen. [Bild von Aussicht] Abends lasse ich den Tag völlig unerwartet neben der Spanierin in der imposanten alten Basilika des Zisterzienserklosters Zenaruzza aus dem 16. Jahrhundert ausklingen. Drei uralte Mönche singen mit zittrigen Stimmen die jahrhundertealten lateinischen Verse des Abendgebets. Es ist kalt in der nach Staub und Kerzenwachs riechenden Klosterkirche, die meterdicken Mauern strahlen gleichermaßen Kälte und Schutz aus und während draußen die Sonne untergeht, wird es drinnen immer dunkler, da der Altarraum nur von flackernden Kerzen beleuchtet wird. Hier, in der hintersten Reihe dieses jahrhundertealten Gemäuers bin ich für heute angekommen und nehme mit geschlossenen Augen den zarten Gesang der Mönche in mich auf, während leise die Strapazen des Tages wie Ballast von meinen schmerzenden Gliedern abfallen. [Bild von Zenaruzza]

Am nächsten Abend sitzen wir in der Herberge kurz hinter Guernica zusammen, gerade so, als würden wir einen Neunzigerjahre-Witz nachstellen: Treffen sich ein Russe, ein Litauer und eine Deutsche beim Abendessen in Spanien. Romas aus Litauen übersetzt für Victor, den Russen, der leidenschaftlich gegen Putin wettert. Leider teilen nicht alle Russen seine Meinung, sagt er, und wir diskutieren wieder diesen unfassbaren Krieg. Den ganzen Tag hatte ich schon darüber nachgedacht, schließlich sind wir heute durch Guernica gekommen, die winzige baskische Kleinstadt, die einst zum Übungsfeld der deutschen und italienischen Faschisten wurde, die furchtbares, unbegreifliches Leid über die Einwohner dieser Stadt brachten. Wiederholt sich die Geschichte einfach immer wieder?

Auf dem Jakobsweg geht es nicht um die Landschaft, es geht auch nicht um die körperliche Herausforderung, ja für viele geht es auch nicht um den Heiligen Jakobus. Es geht um diese Begegnungen, scheinbar zufällig, die etwas tief im Herzen anrühren und so begegnet man sich selbst ganz anders, ganz neu, ganz unvoreingenommen, immer wieder.
Bald schon treffe ich mit einem älteren Norweger in Bilbao ein. Ich nenne ihn insgeheim den Herrn der Zahlen, denn er kennt sehr viele Statistiken zum Jakobsweg. Ungefähr eine Million Besucher hat Santiago im Jahr, nur etwa 340.000 von ihnen pilgern zu Fuß und davon wählen die allermeisten kürzere Routen, als die des Camino del Norte. Wir fühlen uns ein ganz kleines bisschen, als würden wir schon in Santiago ankommen, die ersten 130 Kilometer nach Bilbao sind bekanntermaßen die härtesten des Weges und wir sind erschöpft. Wir legen einen Pausentag ein, um Kraft zu schöpfen für den verbleibenden noch weiten Weg und um diese schöne Stadt anzuschauen. Bilbao erinnert mich ein wenig an Lissabon, eine Stadt mit ansehnlicher, filigraner Architektur und einer offenen, gefühlvollen Stimmung, voller Kunst und Kultur, in der unterschwellig immer der baskische Unabhängigkeitsdrang ein bisschen mitschwingt. Gleichzeitig ist es auch ein Kurzbesuch in der anderen Welt, derjenigen voller Geschäfte und Restaurants und fremder Menschen, die nicht grüßen, einer Welt, in der man sich nur trifft und sich selten wirklich begegnet.

Aus Bilbao heraus geht es dann weiter, vorbei an alten, verfallenen Industrieanlagen aus Zeiten, in denen Fabrikgebäude noch ästhetisch sein sollten – Zeitzeugen der einst goldenen Blüte dieser Region – laufen wir ins asphaltreiche Kantabrien hinein. [Bild Industriegebäude] Und nun wird endlich das Wetter besser: Die Sonne scheint und es wird deutlich wärmer, sodass man sich zwischendurch in guter Pilgermanier auch mal in die Sonne legen kann. Ich laufe jetzt allein, oft treffe ich in diesen Tagen nachmittags den Norweger und wir legen die letzten Kilometer gemeinsam zurück. Es geht durch kleine touristische Hafenstädte wie Castro Urdiales oder Laredo. [Bild von Castro] Im dortigen Kloster dürfen wir erst spät nach dem Abendessen unser Schlaflager beziehen und werden von einer mürrischen Nonne in einer minikleinen, staubigen und eiskalten Abstellkammer untergebracht, in der der zwei Meter große Norweger wirkt wie Alice im Wunderland. Irgendwie ist es auch ein Wunderland, ich denke viel darüber nach, warum es so viele Menschen auf diesen Weg zieht in unseren Zeiten. Was fehlt uns, das wir hier suchen? Ich kann die Frage nicht einmal für mich selbst beantworten. Die Spanier haben ihr Land für Massen von Suchenden geöffnet, bringen jedes Jahr Hunderttausende aus aller Herren Länder in kleinen Dörfchen unter und navigieren sie nach Santiago. Sie markieren Wege, eröffnen staatliche Herbergen und private Cafébars, es ist eine beeindruckende logistische Leistung. Sie sind stolz auf ihre Jakobswege und zu Recht. Unzählige Pilger haben hier nach einem schweren Verlust, einer schweren Krankheit oder aus was auch immer für Gründen ihren Seelenfrieden, ja ihr Gleichgewicht wiedergefunden. Die Jakobswege sind so eine Art Tempel der Selbstfindung in dem die Sehnsüchte nach Einfachheit, Natur und Verbundenheit mit anderen gestillt werden, die die Zeichen unserer Zeit zu sein scheinen.
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Ich war vom 14.3. bis 24.4.2022 auf dem Camino del Norte unterwegs, von Irun über Bilbao, Santander, Gjion nach Santiago und von dort weiter nach Murxia und Fisterra – insgesamt 40 Tage! Falls ihr Fragen habt, meldet euch gerne bei mir! An alle die pilgern wollen oder gerade unterwegs sind: Buen Camino!
Dieser Text erschien ursprünglich im Online-Literaturmagazin Experimenta in den Heften November 22 bis Januar 23, die auch über die Webseite käuflich zu erwerben sind! 🙂