Via Francigena – Pilgern für Fortgeschrittene

Piancenza nach Rom (2012)
 
Ist euch nicht auch manchmal langweilig vom Leben? Manchmal schaue ich mein Leben an und langweile mich wie beim Anblick eines trockenen Stückes Brot! Das sind die Momente, in denen ich Fernweh bekomme, in denen ich etwas Verrücktes machen möchte, in denen ich am liebsten sofort aufbrechen würde, ohne zu packen oder nur dürftig und den Hausschlüssel auf dem Küchentisch liegen lassend festen Schrittes zum Bahnhof schreiten will, um mich dort mit geschlossenen Augen in einen Zug zu setzen. Dann ist alles aufregender als meine Routine, dann ist es egal ob der Zug nach Paris fährt oder nach Castrop-Rauxel, Hauptsache Bewegung. Das sind die Momente in denen ich Bewegung im Raum suche, weil in mir selbst alles stehen geblieben ist, dabei ist Stillstand doch tödlich…

Immer zieht es mich hinaus in die Welt ich suche das Abenteuer, mich reizt das Leben, ich möchte fremde Kulturen erleben, und sei es eine so „nahe“ wie die italienische, ich möchte sie hören, sehen, fühlen. Ich möchte versuchen ihre Sprache zu sprechen und von ihren Speisen kosten während ich ihren Wind auf der Haut spüre, heimlich und unbemerkt, wie Schneewittchen bei den sieben Zwergen. Als kleines Mädchen war es mein größter Wunsch einen amerikanischen Ureinwohner zu heiraten. Erstens weil ich die schönen langen schwarzen Haare schön fand (für schwarze Haare habe ich noch heute einen Faible), aber zweitens bis fünfzigstens, weil ich dann mit meinem Mann auf unseren wilden Pferden durch die Prärie reiten könnte, mal hier, mal dort unser Tipi aufschlagend, immer rastlos. Verrückt oder? Naja dieses kleine Mädchen in mir das hat mich diesmal nach Italien auf den Frankenweg – italienisch “Via Francigena” – getrieben.

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Die Via Francigena ist der antike Pilgerweg von Canterbury über Lausanne nach Rom. Anders als der Jakobsweg ist diese Route noch nicht bzw. nicht mehr besonders bekannt, was einige Vor- aber auch Nachteile mit sich bringt. So verläuft die Strecke teilweise noch auf Straßen, manchmal auch auf Schnellstraßen, sogenannten Superstradas, auch wenn die Italiener dabei sind für die Pilger Alternativstrecken zu finden, die ungefährlicher sind. Auch gibt es sehr wenige Pilgerherbergen, man übernachtet stattdessen fast ausschließlich in Klöstern und sogenannten Parrochias, was ich mal mit Gemeindehaus übersetze, auch wenn es das nicht so richtig trifft. Viele Leute denen man begegnet kennen den Weg nicht und wundern sich, was man macht, so mitten in der italienischen Pampa mit einem Stock und einem großen Rucksack, sie schauen fragend, schütteln mit dem Kopf und man sieht das “seltsame Touristen” ihrer Gedanken förmlich auf ihrer Stirn geschrieben stehen. Andererseits trifft man auf dem Frankenweg keine Tourigrinos – Pilgertouristen, die das alles nur als eine große Party- und Sportstrecke sehen, von denen es in Spanien Massen gibt, weshalb die Spanier diesen Schimpfbegriff eingeführt haben. Die Menschen denen man begegnet, die vom Weg wissen reagieren deshalb oft übermäßig beeindruckt, so dass ich jedenfalls oft schon peinlich berührt war (in San Quirico meinte ein junger Designer aus Mailand zu mir “it’s an honour to meet you and watch soccer here with you”) und oft laden einen Italiener die am Wegesrand wohnen auf ein Glas Wein, Limo, Käse oder Kekse zu sich ein.

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So war das in Spanien damals nicht. Ja, oft habe ich an den Jakobsweg gedacht auf dieser Reise. Irgendwie glichen sich die beiden Reisen, aber irgendwie waren sie auch sehr verschieden. Mit jedem Schritt auf italienischem Boden schien ich einen spanischen Schritt wieder zu erleben, ja wieder zu beleben, und dennoch….mit dem Jakobsweg habe ich etwas abgeschlossen. Auf der Via Francigena habe ich einen neuen Lebensabschnitt angefangen!

Diesmal habe ich ein Stück altes Ich abgelegt. Mir ist klar geworden, was mich seit Jahren quält, mal zwickt es nur, mal bricht es mir fast das Genick. Ich bin aufgebrochen, um mir klar darüber zu werden, was ich vom Leben erwarte, ja was ich vom Leben will, ich, ich ganz allein. Stattdessen ist mir nur klar geworden was ich nicht will, aber ist das nicht viel wichtiger??? Ich möchte nicht immer die sein, die alles durchzieht, alles gut durch organisiert, Spaß muss sein, ja klar, aber nur nicht den Erfolg gefährden! Wo käme man denn da hin?? So ist auch der wesentlichste Unterschied der beiden Wanderungen: Damals habe ich nicht wirklich mein „richtiges“ Leben pausiert. Ich war scheinfrei und hatte quasi sowieso frei, bevor die Examensvorbereitung anfing. Ich musste mich nicht dafür entscheiden etwas für mich zu tun, dass mich vielleicht beruflich um ein oder zwei oder sogar mehr Monate zurück wirft. Das war diesmal anders. Aber schließlich weiß der Chinese: Manchmal muss man rückwärtsgehen, um vorwärts zu gelangen.

So habe ich denn auch diesmal genau die richtigen Leute getroffen. Mehrere Tage war ich Teil einer sehr skurrilen Gruppe bestehend aus einem 30-jährigen niederländischen Marathonläufer namens Egbert, einem 75-jährigen schwäbischem Rentner namens Wolfgang (Egbert und ich nennen ihn liebevoll Wolfie) und mir. Wir sind nicht viel wirklich gemeinsam gelaufen, irgendwie hatte doch jeder seine eigene Geschwindigkeit und nicht nur das- auch seine eigene Geschichte. Aber ich habe doch genau die richtigen Gespräche mit Egbert geführt, darüber was eine Berufung von einem Beruf unterscheidet, darüber was glücklich macht und was nicht, über Gefühle, Hindernisse im Leben und Gott und die Welt. In den Klöstern in denen ich oft allein oder mit „der Crew“ übernachtet habe wurde einem – anfangs sozusagen zwangsweise – Ruhe verordnet. Bei Nachtruhe teilweise ab 20 Uhr ist der wache Teil des Tages schnell vorüber…und liegt man erst im Bett so ist man doch zu müde um zu lesen, so dass ich Heines „Reise nach Italien“ trotz der wenigen Seiten noch immer nicht gelesen habe. Manchmal war es dort gruselig abends, allein zwischen riesigen meterdicken kalten Mauern, in einem jahrhundertealten Gebäudekomplex, ehemals von 800 Mönchen bewohnt, jetzt nur noch mit drei dauerhaften Bewohnern. Manchmal war es auch einsam dort abends, aber nicht auf eine schmerzhafte Weise, sondern auf eine Art, bei der man sich selbst wieder findet, weil sonst niemand im Raum ist und man ganz auf seine eigenen Gedanken angewiesen ist. Man lernt so wieder was Intuition ist, man lernt auf seinen Körper zu hören und noch viel mehr auf den eigenen Geist, wann sagt die Seele: „Es reicht!“? Wann sagt der Körper: „Ich will mich bewegen!”?
Auf dem Weg begegnete ich aber nicht nur dem wahnsinnig gastfreundlichen italienischen Volk und Pilgern aller Herrenländer, sondern auch Tieren. Wenn man so in der Stadt lebt wie ich, dann hat man im Alltag keinen Kontakt mehr zu Tieren. Sicher, meine Eltern haben einen Hund, aber wie oft bin ich da schon? Der einzige tierische Kontakt neben der gelegentlich gesichteten Taube oder den Enten hier im Volksgarten, beides eher nervig als erquickend, pflege ich zu Berta, der kleinen Beagle-Hündin von Freunden von mir. Irgendwie ist das doch unnatürlich! Man vergisst völlig, wie anders diese Lebewesen leben. Man fängt an über Tiere denen man auf dem Weg begegnet nachzudenken, ich habe Ameisen voller Begeisterung beobachtet (ich, die Insektenhasserin!), bin an erstaunten Pferden im Regen vorbei gejoggt und musste mir den Weg durch Eselsgehege bahnen. Ich habe endlich mal wieder meine Umgebung wahr genommen, genossen, beobachtet. Auch die Italiener zum Beispiel. Mir wurde vor Augen geführt, was für eine grandiose, reiche Vergangenheit Italien hinter sich hat! Das italienische Volk ist ein Volk der Kunst und Schönheit, wie die Deutschen Dichter und Denker…der Italiener an sich liebt die Skulptur und stellt sich gerne, sobald er es sich leisten kann, einen Miniaturdavid in den Vorgarten, wie der kleinkarierte Deutsche sich in größter Selbstverständlichkeit einen Gartenzwergbatallion in den Schrebergarten pflanzt. Und überall sähe es albern aus, aber irgendwie versteht der Italiener wie man den David hinstellen muss, damit es nicht aussieht, als ob der Vorgartenbesitzer damit irgendeinen Komplex auszugleichen suche. Belissima! Umso verwunderlicher, dass die alternden Italiener gerade in der wunderschönen Toskana, in diesen malerischen kleinen mittelalterlichen Hügelstädtchen aus den dunklen, tiefschwarzen Hauseingängen mit alten Steintreppen, die immer entweder steil nach oben oder steil nach unten führen, wie aus Löchern in der Früh herauskriechen, so jahrhundertealt, so antiquiert, so abgewrackt sind diese alten kleinen Häuschen auf dem Land, dass man sich wundert wie der den Schöngeist liebende Italiener es dort aushält.

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Gottesfürchtig sind sie auch, die Italiener. Nicht nur einmal bin ich unter Tränen gebeten worden für diese oder jene andere Person in Rom zu beten. Manchmal kam ich mir vor wie eine Art Gebetkurier, ich musste mir schon aufschreiben, für wen ich wo beten soll und wieviel Geld (das mir natürlich immer mitgegeben wurde) ich wo spenden sollte. Als ob ich heilig wäre, weil ich den Weg gehe…ich nahm die Aufgabe jedoch gern entgegen und war auch ein bisschen stolz dabei und ich habe auch wie versprochen in Rom alle aufgetragenen Gebete ausgeführt (alleine damit war ich einen halben Vormittag beschäftigt). Nur zu schnell hatte ich auch raus gefunden dass man so ziemlich alles bekommt in Italien, wenn man sagt man betet für denjenigen in Rom… 😉
Und so gab es solche und solche Tage. An einem Tag lagen mir zwei wildfremde, weinende Frauen in den Armen- eine morgens, eine abends. An anderen Tagen habe ich keine Menschenseele so richtig getroffen. Schnell habe ich etwas Italienisch gelernt. Die Italiener stellen doch immer die selben Fragen: Wo willst du hin? – Nach Rom.
Zu Fuß? – Ja.
Den ganzen Weg nach Rom? – Ja.
Bist du allein? – Ja.
Hast du denn keine angst? – Ich vertraue auf Gott. (Vom Gesprächspartner quittiert mit einem anerkennenden Nicken). Und die Frauen fragten immer: “Bist du denn nicht verheiratet? Hast du keine Kinder?” Und immer wieder: “Macht sich nicht deine Mutter große Sorgen? Du musst deine Mutter anrufen, Kind, vergiss nicht deine Mutter anzurufen!!”
In Italien läuft man teilweise viel Straße, da wünscht man sich auf einen Waldpfad, aber ich bin auch Waldpfade gegangen, auf denen man sich lieber auf die Straße wünscht. So habe ich mich einmal auf einem nicht markierten „Weg“ Indiana Jones like mit nichts als einer handgemalten “Karte” auf einem Blatt Karopapier mit Ortsangaben wie „fallen tree“ und „electricity poll“ mit meinem Wanderstock links und rechts und vor mir das Gestrüpp niederringend durch den Wald den Berg hoch gekämpft, bis ich nicht mehr wusste wo ich war oder ob ich dort jemals raus finden würde… als ich beim Umdrehen realisiert habe, dass ich nicht sagen könnte woher ich kam, weil sich das Gestrüpp hinter mir wieder wie eine undurchdringbare und unangetastete Wand zusammen geschoben hatte.
Auch auf dem Weg nach Cassio bin ich innerlich tausend Tode gestorben. Der Aufstieg auf die Apenninen am dritten Tag war mit Sicherheit das anstrengendste was ich je gemacht habe und das schließt ein zweieinhalbstündiges Taekwando Training bei einem koreanischen Supermeister mit gefühlt 300 Dan zu Schulzeiten in Peking ein- und danach konnte ich eine Woche keinen Muskel mehr bewegen, weil der gute „master“ mich gedehnt hatte (das im Unterschied zu selber dehnen, ihr könnt euch denken wie das aussieht). Ich war noch nie so erschöpft, wie auf dem Weg nach Cassio, fünf (!) Stunden habe ich für die letzten sieben Kilometer gebraucht, über Stock und Stein, durch den Schlamm und ohne Handyempfang, völlig am Limit meiner körperlichen Möglichkeiten, aber man muss weiter, was hilft’s? Ich wusste ja auch schon vom Jakobsweg das man immer ankommt. Immer. Irgendwann.
Als ich am Pfingstsonntag um kurz vor zwölf auf den Petersplatz in Rom trat, oder eher: mich in die Menschenmenge schob, konnte ich kaum glauben, dass schon meine zweite Pilgerfahrt beendet war. Nach diesmal “nur” 520 Km zu Fuß in 20 Tagen quer durch bella Italia fühlte ich mich in dieser Menschenmenge, deren Personen vom Papst wenige Minuten später mit “peregrini” – “Pilger” angesprochen wurde, verloren. Den Unterschied zwischen “Pilgerwelt” und realer Welt, oder für die Murakamiliebhaber unter euch – zwischen 2012 und 1Q2012, konnte man diesmal mit den Händen greifen, so krass war die Umstellung von 3-Mann-Dörfern auf Millionenmetropole. Und alles was in dieser Welt, der wirklichen, 2012, wichtig ist, ist in 1Q2012 nicht wichtig und eigentlich ist es auch in der realen Welt nur vermeintlich wichtig, aber man merkt das da nicht mehr…
Ich war ausgebrochen für knapp vier Wochen, nicht nur aus einem anderen Leben, auch aus mir selbst. Aus meinem eigenen kleinen Gefängnis an Ansprüchen an mich selbst und Erwartungen an andere, aus Gefühlen in denen ich gefangen war, aus Träumen. Darauf gebracht hat mich eine Nonne in Sienna. “Cante olle vita”,  schrieb sie in meinen Pilgerpass. Wörtlich heißt das: “Sing für das Leben”, bedeutet aber: “Sei dankbar für das Leben”!
Sei dankbar für das Leben!! Drei volle Tage habe ich auf meinem Spaziergang durch die Toskana darüber nachgedacht, warum sie das in mein Heft geschrieben hat…strahlte ich etwa dermaßen aus, dass ich irgendwie unzufrieden bin? Und plötzlich wurde mir klar dass das unwichtig ist, plötzlich brach es aus mir aus, die Erkenntnis dieser Worte dieser weisen Frau, ich kann dankbar für das Leben sein, denn ich habe alles, alles, ja alles was man sich wünschen kann und mehr! Wir alle sind so unglaublich privilegiert, wir haben noch keinen Tag in unserem Leben hungern müssen oder kein Dach über dem Kopf gehabt (freiwillig zählt nicht^^)! Alles andere ist doch zweitrangig! Wir haben das Leben geschenkt bekommen und dafür können wir dankbar sein!

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